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Berliner Schizophrenie: „Krücke“ mal Beleidigung und mal nicht

Zwei Juristen, fünf Meinungen. Man würde fast glauben: Hat ein Gericht über einen Einzelfall entschieden, wird ein anderes Gericht diesen Einzelfall genauso entscheiden. Weit gefehlt, denn in Berlin wird in demselben Einzelfall die Bezeichnung einer Person als "Krücke" ohne Erläuterung von einem Gericht als Beleidigung angesehen und von einem anderen nicht. In einer Email wurde eine Mandantin der Kanzlei Kysucan mit "Krücke" beleidigt, im Strafverfahren vor dem AG Tiergarten, 229 Ds 221/13, kam es zwar zu einer Einstellung wegen geringer Schuld, doch bejahte man den Tatbestand dem Grunde nach. Auch in Leipzig sieht man es so (Arbeitsgericht Leipzig, Urteil vom 14.04.2005, 10 Ca 8391/04: "Krücke" = Beleidigung). Im sich anschließenden zivilrechtlichen Verfahren vor dem AG Tempelhof-Kreuzberg entschied man dann gemäß Urteil vom 08.10.2015, 14 C 100/15 genau anders herum: Die Äußerung soll nur Ausdruck der Enttäuschung über eine gescheiterte Beziehung gewesen sein. Wegen anderer Rechtsfragen des Falles entstand allerdings der Eindruck, das Gericht habe bloß den Weg des geringsten Widerstandes gesucht, wie es vor Berliner Gerichten nicht selten vorkommt. Eine Auseinandersetzung mit den entgegen gesetzten Entscheidungen (die ausdrücklich benannt wurden) fand nicht statt.